Freie Grafik und Handzeichnung: Preis für Iris Thürmer Das Wort Graphik stammt vom griechischen „graphikos“: das Schreiben betreffend. (Graphik ist eine Schreib- und Zeichenkunst. So einfach klingt das, oder war es mal.) Der Maler, Bildhauer und Grafiker Max Klinger, für Käthe Kollwitz der grafische Anreger, schreibt 1891 in seiner Schrift: „Malerei und Zeichnung“: (Zitat) „Hervorragendster Charakterzug der Zeichnung ist die starke Subjektivität des Künstlers, er darf seine eigensten Freuden und Schmerzen, flüchtigsten und tiefsten Gefühle freikünstlerisch geben.“ Anfang November sah ich: Die blattlose Jahreszeit hat begonnen: mit Linearität, Filigranität: aufstrebend, ragend, schwingend, herabhängend; verwirrend durcheinander, nirgends rechtwinklig systematisch. Und doch sah ich System: jeder Busch, Baum, zeigte seins. Seinen Wuchs, seine Gestalt, seine Struktur. Ich sah: Das ist grafisch ! Büsche, Bäume, zeigten eine Variation des Themas. Wenn Iris Thürmer zeichnet (oder malt): setzt sie etwas mit Stift (oder Pinsel). Das eine neben das andere, das eine auf das andere. Im Katalog von 2010 des Künstlerhauses Schloss Plüschow „Jeder Tag ist eine Reise“, ist aus ihrem Tagebuch zu lesen, wie sich zeichnerisch, wie sie sagt (Zitat:) „eine ganze Serie unleserlicher Botschaften entwickelt, zum Schluss nur noch senkrechte Striche mit einer unglaublichen Andacht, wie Kinder sie haben beim Schreiben lernen.“ Das ist es, wusste ich plötzlich. Was ich sehe in ihren Blättern (und Bildern): Andacht. Das können, dazu fähig sein! Freisein ist mit Entstehung identisch. Wie im Zeichnen, um das es hier geht. Dürfen, Können, Entstehenlassen sind nicht selbstverständlich. Und sind doch eine Lebensgrundlage. Irgendwo dürfen Mädchen nicht schreiben lernen. Und wenn eines dafür eintritt, wird ihm in den Kopf geschossen. Dürfen, Können, Entstehen lassen, - das ist für mich die Botschaft der andächtigen Bilder, die ich von Iris Thürmer kenne. Ein Ausspruch von Iris Thürmer bestärkt mich in meiner Sicht auf das Wenige als klare Form, als sogar äußerste Beschränkung der grafischen Mittel. Sie spricht in einem Text von der „idealen Form der Leere.“ Ich sehe unterschiedliche Kompositionen. Kompositionen aus Linien, die einander überschneiden, sich berühren, sich nicht berühren, lineare Gebilde, gerade Striche, die sich strecken, die an Schablonen entlang gebogen und kurvend gezeichnet sind. Sie sind gehäuft oder sparsam gesetzt. Es sind Zeichenwie Übrigbleibsel, aus Erinnerung, die (noch) bewahrt werden muss. Auf einem Blatt sehe ich kurze, abwechselnd um 90 Grad gedrehte Striche, blau, rot. Als ob etwas in der Luft zittert. Dabei sind es nur, wie flirrend, rote und blaue Strichlein. Auf dem schweren Bütten. Nur sie sehe ich. Und: sie allein kann ich genießen. Ähnlich wie, wenn ich etwas anderes, in der sogenannten Natur, oder irgendwo sonst, genießen kann. Sie „arbeitet“, sagt Iris Thürmer, „sehr intuitiv“, lese ich in einem der Kataloge. Das ist logisch und anschaulich, denn sie hat ja, wenn sie beginnt, vermute ich, keinen Plan. Sie setzt einen Strich, und sieht. Sehen = Denken = Eingebung. So entsteht etwas unter ihrem Blick. Eingebung ist hier wie eine Quelle, die etwas sprudeln lässt. Auch Töne, so, wie Inge Jastram in einigen der Blätter Töne sah. Einige ihrer Zeichnungen nennt Iris Thürmer „Systemisch“. Mal überschneiden sich lange horizontale mit ebenbürtigen vertikalen Linien, bilden harte Winkelräume, wieder mit Hilfe von Schablonen gezeichnete weich gerundete Areale, wie zum Verweilen ermunternd, oder irritierend gekurvt abbrechende. Irrgartenverwirrend ist das alles!! Leerstellen sind, als fehlt etwas im System. Am System selbst. Oder, ist dort Freiheit? Auf einem Blatt sind ganz winzige Striche zu sehen: Als war Iris Thürmer nahe dran an einer Realität, einem Erleben, wie Blick aufs Wasser mit Reflexionen im feinen Spiel kleiner Wellenkräusel und Lichtreflexe. Als gewann sie hier durch Abstraktion feinste linear gebaute Schwerelosigkeit, die uns harmonisch entgegenflirrt. Als hatte sie irgendwo ein Flirren gesehen. So hing ich (wieder) in meinen Assoziationen fest, statt nur zu sehen, was auf dem Papier zu sehen ist. In den „Kontinuum“- Blättern wird etwas wie von Energie geführt, entlang geführt, weitergeführt. Nicht mehr bruchstückhaft irrgarten- oder flirrbildhaft, sondern konsequent. Und das alles wieder mit einfachen Mitteln: Graphitstift, Hilfsmittel Lineal. Es sind wieder (nur) Linien. Sie sind horizontal, wie eng aneinandergeschmiegt, präzise gezeichnet. Iris Thürmers Kontinuum löst mir ein Gefühl aus: da könnte etwas beendet werden, was gleichmäßig, lückenlos, ununterbrochen, zusammenhängend sich fortsetzend da ist. Noch da ist. Hier ist noch Kontinuum. Wie eine beruhigende Gleichmäßigkeit, Vergewisserung, Harmonie. Ausgeglichenheit, paradiesisch. Was für ein Gefühlsausdruck! Sie hat, also, in ihren Zeichnungen Striche, unterschiedlich lange, gerade, gekrümmte, gerundete, dreiviertelkreisförmige - Elemente oder Zeichen - horizontal, vertikal, diagonal zueinander in Spannung gesetzt. Strichformen. Wie Spieler, Gegenspieler – alles Individuen! Mit der Wirkung: Das ganze ist endlos, breitet sich über die Blätter hinaus weit aus. Es ist diszipliniert gezeichnet. Ist zu grafischen Flächen verwandelt mit nur so viel, dass es genügt: der Zeichnerin genügt. Es ist wie technisch gezeichnet. Technisch heißt für mich: funktionell. Technische Zeichnung ist immer ein Bauplan. Da muss etwas ganz präzise sein, um funktionieren zu können. Ich sehe auf einigen Blättern etwas wie Buchstaben. Buchstaben-Schablonenfragmente überlagern einander oder sind auf den Kopf gestellt. Durcheinander, gereiht, geordnet. „Wie Kinder mit Andacht schreiben“, hatte Iris Thürmer formuliert. Oder Singen, füge ich hinzu. So verstehe ich das kindliche „LA LA LA“ in einigen ihrer damit beschriebenen Bilder. Es ist das - andächtige - Singen ihrer kleinen Tochter. Ich sehe in ihren grafischen Zeichnungen ein unaufhörliches Fortsetzen der Wiedergewinnung einer (einst erlebten) Einheit. Wie einer Idylle. Als ist es ein einsames sich Vergewissern einer Handlungsfähigkeit, wie, um in der Gegenwart leben zu können. Was Iris Thürmer bleibt, ist ihr Gebundensein an ihr Gestalten. Am 17. 8. 2012 schreibt sie etwas in ihr Tagebuch. Sie schreibt: „Ich gehe, gehe. Schreibe mir die Straße ins Hirn. Gehend schreibend. Straße für Straße. Feldstraße. Scheunenstraße. Schulstraße. Am Wiesenweg. Laufen, laufen, laufen. Alles erlaufen. Laufend den Ort erkunden. Einschreiben. Kreuz und quer. Spuren im Kopf. © Wilfried Schröder, 2012 |
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